Kieler Bagaluten - Leseprobe

 

 

 

Mit traumhaft schönem Wetter können wir Schleswig-Holsteiner in aller Regel nicht punkten. Bestimmt kennst du den Spruch: Der Sommer fällt bei uns meist auf einen Dienstag. Das ist natürlich maßlos übertrieben, denn oft ist der nachfolgende Mittwoch auch noch recht schön, und viele behaupten sogar, dass sie am Montag davor schon die Strickjacke über dem Norwegerpullover weggelassen hätten. Wenn sich dann allerdings der Sommer noch bis zum Wochenende hinzieht, murmeln manche schon was von Klimakatastrophe. Wie im letzten Sommer, ein großartiger Sommer, und was machen wir? Schauen bedenklich gen Himmel und sagen unheilvoll: Oh oh.

 

  Jetzt ist Frühling, der Sommer also noch in weiter Ferne. Der Mann trägt seine Arbeitskluft, wie er das nennt. Ein schmutzig-dunkles Grau von den derben Gummistiefeln bis hoch zur eng anliegenden Kapuze. So erkennt ihn niemand, sollte er gesehen werden. Und das ist gut so.

 

  Er trägt Hacke und Schippe und ist beinahe unsichtbar, wie er da bei Nacht[ in seinem schwankenden Seemannsgang durch den dunklen Wald auf den Nordostseekanal zustapft, wo er zu graben beginnt. Gott, ja nun, was heißt Wald? Wir sprechen zwar schon von Wald, wenn mal fünf, sechs Bäume etwas dichter beieinander stehen. Hier sollte ich aber vielleicht eher Gehölz sagen. Das gibt's bei uns reichlich, sogenannte „Knicks“. Brauchen wir unbedingt - wegen des Windes, den es bei uns auch reichlich gibt. Damit die Felder nicht auf Wanderschaft gehen. Du erinnerst dich vielleicht noch an die Schlagzeilen, als sich einmal ein Feld auf der angrenzenden Autobahn häuslich niedergelassen hat. Der Bauer hatte den Knick weggehauen, um größere Schläge für seine Bewirtschaftungen zu bekommen.

 

  Für die Jahreszeit ist der Mann perfekt gekleidet. So ein bisschen wie eine Zwiebel, mehrere Schichten übereinander (alle grau), von denen er jederzeit welche abwerfen kann, wenn er schwitzt. Und er schwitzt mächtig, was aber nichts mit dem Wetter zu tun hat. Im April in dunkler Nacht schwitzt in Schleswig-Holstein niemand wegen zu hoher Außentemperaturen. So wie er mit Hacke und Schippe zugange ist, müsste er hingegen gut zwei, drei Schichten ablegen. Doch er tut es nicht. Erstens weil er keine Zeit hat und zweitens aus Angst, er könnte sie nicht wiederfinden und womöglich ein verräterisches Teil liegenlassen.

 

  Der Mann buddelt am Kanal, während das Wasser leise gegen die Basaltsteine der Uferbefestigung schwappt. Der Knick ist hier breit, wie geschaffen für etwas, das man verschwinden lassen will und das nicht gleich übermorgen wieder ausgebuddelt werden soll, sondern möglichst nie. Oder vielleicht erst nach siebzig Jahren, wie die Blindgänger, die überall versteckt sind. Kannst du drauf wetten: Bei jedem größeren Bauprojekt hängt eine Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg an der Baggerschaufel. Meist in Gaarden, wo flächendeckend bombardiert wurde, um die Werften platt zu machen.

 

  Da, wo der Mann schaufelt, hat es keine Werften gegeben, und wenn sich doch eine Bombe dorthin verirrt haben sollte, ist es höchst unwahrscheinlich, dass sie im Rahmen einer Großbaustelle wieder zutage kommen könnte. Denn was sollte am Kanalufer schon gebaut werden?

 

  Der Mann hält inne und sieht nach oben. Dunkel und drohend wölbt sich die Brücke dem Nachthimmel entgegen. Um diese Zeit fahren hier keine Autos mehr über den Kanal, die mit ihren Scheinwerferkegeln Licht ins Dunkel bringen könnten. Selbst auf dem Wasser bricht sich nur ab und an ein kleiner Lichtfleck auf der glatten Oberfläche. Es herrscht absolute Dunkelheit - und Stille. Totenstille.

 

  Seine Hände tun weh von den Henkeln der schweren Plastiktüten, die ihm tief in die Finger geschnitten haben, als er sie in Etappen hierherschleppte. Zehn Stück insgesamt. Der Mann gräbt weiter. Schweiß läuft ihm in Strömen den Rücken runter. Er ächzt unter dem Gewicht, als er die Plastiktüten eine nach der anderen in die Grube wuchtet.

 

  Leider hat er in der Eile auf die alten Aldi-Plastiktüten zurückgegriffen. Gute deutsche Wertarbeit mit einem Verfallsdatum von hundert Jahren. Mindestens. Schade eigentlich. Die neuen sind zwar teurer, wären aber nach bummelig fünf Jahren samt Inhalt verrottet. Wäre besser gewesen, denn der Mann muss sicher sein können: Das, was er vergräbt, darf nicht gefunden werden.

 

  Niemals.