Leseprobe: Mann vom Mond

Maria

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Maria kann nicht mehr essen. Wenn sie einen kleinen Bissen in den Mund nimmt, kaut sie erst einmal ganz lange darauf herum, um sich innerlich auf das Schlucken vorzubereiten. Je länger sie kaut, desto größer wird der winzige Bissen in ihrem Mund. Sie müsste endlich alles herunter schlucken, aber es geht nicht. Ihr Hals ist völlig dicht und sie weiß, wenn sie jetzt schluckt, wird der eklige Matsch in ihrer Speiseröhre stecken bleiben und alles verkleben. Sie muss dann ersticken. Schon jetzt bekommt sie kaum noch Luft. Nur wenn Lothar da ist, kann sie schlucken, nicht sehr gut, aber es geht. Wenn Lothar da ist, schluckt sie alles. Aber wenn Lothar weg ist, dann würde sie an jedem Bissen ersticken. „Ich kann nicht“, sagt sie, wenn Lothar früh aus dem Haus geht und sie noch nicht gefrühstückt hat. Sie ist ganz matt vor Hunger, aber sie kann ohne ihn nicht essen. „Was soll das heißen: du kannst nicht?“ fragt er und sein pausbäckig gemütliches Gesicht sieht sie drohend an. Jetzt hat sie Angst vor ihm. Er schlägt mit der Hand auf den Tisch. „Wieso kannst du nicht essen? Jedes Baby kann das.“ Ja, ein Baby kann das. Ein Baby hat ja auch noch nicht so viel schlucken müssen wie sie.

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Maria kann nicht mehr einschlafen. „Das ist doch völliger Quatsch“, sagt Lothar. „Wieso kannst du nicht einschlafen? Jedes Baby kann das.“ Da hat er natürlich Recht. Auch sie kann einschlafen, aber nur, wenn er bei ihr ist. Wenn er sich in sie hinein schiebt, wenn er mit seinem Kugelbauch auf ihren Magen drückt, dass sie beinahe ohnmächtig wird, wenn er stöhnt und mit seinem ganzen Gewicht auf ihr liegt, ohne sich mit Ellenbogen oder Knien abzustützen, dann kann sie einschlafen. Denn er hält sie mit seinem Gewicht im Bett fest. Das ist gut so. Wenn er nicht da ist und mit seinem Gewicht auf ihr lastet, dann ist sie völlig haltlos. Sowie sie die Augen schließt, schwebt sie. Ganz leicht fühlt sie sich dann, so leicht, dass ihr Körper sich langsam aus dem Bett hebt und davon schwebt, einem unheimlichen Dunkel entgegen. Immer schneller schwebt sie diesem Schwarz entgegen, diesem unbekannten düsteren Dunkel, weg von allem, was sie kennt. Ganz klein und allein ist sie plötzlich. Es ist so kalt. Eine unendliche Kälte und Einsamkeit ist rings um sie herum. Sie schwebt schwerelos in dieses Nichts aus Dunkelheit. Sie zittert. Ganz unten in der Ferne sieht sie ihren Lothar. Sie schreit, aber er hört sie nicht. Sie schlägt wild mit den Armen um sich, aber er sieht sie nicht. Und dann fliegt sie weg, fort in ein Nichts, aus dem sie nie wieder zurückfinden wird. Damit das nicht passiert, schläft sie lieber nicht ein, wenn er sie nicht mit seinem Gewicht festhält.