Kiel Ahoi! - Leseprobe

 

Ihr Masseur ist ein Stand-By-Bär. Ein Hüne von einem Mann, der aufs Wort folgt. Die Fitnessstudio-Rezeption ruft ihn an und zehn Minuten später steht er auf der Matte. Das geht natürlich nur, weil Kiel – insbesondere sonntags - eine Stadt ohne nennenswerten Verkehr ist und außerdem eine geringe Ausdehnung hat. Letzteres übrigens auch werktags.

 

Vanessa liegt schon flach, als er kommt. Er richtet sich zu voller Größe vor ihr auf, erhebt die Tatzen und sie schließt gottergeben die Augen.

 

Ich weiß nicht, ob du eine Massage kennst. Das ist das, was es heute gar nicht mehr gibt. Zumindest nicht auf Krankenschein – den es auch nicht mehr gibt, was eigentlich schade ist. Schließlich war es eine ausgesprochen korrekte Bezeichnung. Ein Schein, den man brauchte, wenn man krank war. Heute gibt es stattdessen die Gesundheitskarte. George Orwell lässt grüßen, obwohl 1984 schon lange vorbei ist.

 

Auch wenn Massage auf Krankenschein schon lange passé ist, wird weiterhin Wert darauf gelegt, dass sie sich ihren medizinischen Touch bewahrt. Die Böden im Massageraum sind antiseptisch, die Behandlung (man beachte die Bezeichnung) findet auf einer hart gestopften 50-Zentimeter-Liege statt und die Wände gefallen sich in klinischem Design. Nicht zu vergessen die Beleuchtung: strahlend hell, damit dem Physiotherapeuten (das Wort Masseur ist auch ausgestorben) keine körperliche Unzulänglichkeit ihres Opfers entgeht.

 

Ja, so ist das und das ist gut so. Dann kann man sich wenigstens erhobenen Hauptes dorthin wagen und muss sich nicht genieren. Welcher gute Deutsche gäbe schon gerne zu, dass er sich nicht krankheitshalber, sondern nur zum persönlichen Amüsement von anderen Leuten durchkneten lässt. Das ähnelte dann schon beinah einem Gang in den Puff.

 

Vanessa verfügt über keinerlei körperliche Unzulänglichkeiten. Sie kann sich jedem zeigen, sei er Physiotherapeut, Masseur und sonst wer. An ihr ist alles makellos. Daher wäre es nicht nötig, dass sich ihr Fitnessstudio die Extravaganz leistet, es seinen Kunden ein wenig angenehmer machen. Im Massageraum ist das Licht leicht gedämpft, die Liege ist 60 Zentimeter breit und gepolstert, und aus dem Off ertönen leise Klänge, die unaufdringlich durchs Ohr direkt in die Seele tröpfeln und sie freundlich streicheln.

 

In diesem entspannenden Halbdunkel begibt sie sich unter die Hände des Bären. Sanft knetet er ihre Muskeln, drückt seine Daumen unter ihre Schulterblätter, streicht ihr das Blut aus den Schenkeln, massiert Sonnengeflecht und Lymphknoten, Fußsohlen und Handflächen. Es ist ein Traum. Die restlichen drei Klassenarbeiten, die ihr eben noch wie ein Stein im Magen lagen, steigen auf und flattern schmetterlingsgleich davon. Endlich befreit. Sie stöhnt wohlig auf.

 

Der Bär stutzt.

 

Was war das denn? Probehalber widmet er sich erneut den Lymphknoten in ihren Achseln und kommt dabei den Brustwarzen näher, als vielleicht nötig gewesen wäre. Jetzt ist es Vanessa, die stutzt. Sie hält den Atem an, während sich ihre Brustwarzen verräterisch zusammenziehen.

 

Was soll ich sagen? Versteh einer die Frauen! Chancenlos. Wer hätte gedacht, dass eine gut aussehende, junge Frau, die es schon rein optisch überhaupt nicht nötig hätte, sich auf den weichen Polstern einer Massageliege derart vergessen würde. Vielleicht war sie doch von dem Tanz mit Uwe ein wenig angefixt. Vielleicht hat die zentnerschwere Last der Klausuren, die ihr aus dem Magen geknetet wurden, sie leicht und locker werden lassen. Oder die kundigen Hände des Masseurs waren einfach zu viel versprechend.

 

Jedenfalls lässt sie ihn machen.

 

Und er macht.

 

Danach möchte sie im Boden versinken. Sie dreht sich zur Seite und rollt sich zusammen. „Alles okay, schöne Lady?“ flüstert der Masseur und küsst zart ihren Handrücken. Als sie nickt, geht er und schließt leise die Tür.

 

Sie richtet sich auf und vergräbt das Gesicht in den Händen. Du meine Güte, wie konnte so etwas nur passieren? Ein Albtraum. Und das Schlimmste: Bei jedem Mann über eins neunzig wird sie ab jetzt denken müssen: war er es? Denn wegen des Schummerlichts kennt sie nur seine Silhouette.

 

Was sie nicht weiß: ihr Bär ist eigentlich ein Maulwurf, massiert ohne Brille, um sich ganz auf seine Hände konzentrieren zu können. So erkennt er seine Kundschaft nur schemenhaft. Es war also ein echtes Blind Date.