Dumm Tüch - Leseprobe

 

Kiel war ja mal eine Insel. Also nicht so eine wie vielleicht Hawaii, ein Eiland in einem Meer aus Nichts und Wasser. Eher so wie ein Spiegelei. In der Mitte das Ei, drumrum so ein bisschen Pfanne – in unserem Fall Kieler Förde und Stadtgraben - und dann gleich der Pfannenrand in Form von Festland. An der einen Ecke klebte das Ei sogar ein bisschen am Pfannerand fest, ein schlanker Übergang. Aber so eine schmächtige Furt zum Rest der Welt reicht natürlich nicht, wenn ein Ei anfängt, aus allen Nähten zu platzen.

 

Daher haben schon die Altvorderen Brückchen an Brückchen über den Alten Stadtgraben zum Pfannenrand gebaut und schließlich „was soll’s“ gesagt und das Teil soweit überdacht, dass heute nur noch drei kleine Tümpel darunter hervorluken.

 

Na, das ist gemein, dass ich Tümpel sage. Zwei dieser Tümpel sind nämlich hübsch angelegte kleine Seelein mit Entchen drauf und allen Schikanen. Nur der letzte Tümpel konnte sich noch lange – immerhin bis 2002 - als absolutes Drecksloch behaupten. Doch jetzt picobello mit Sitzstufen bis zum Wasser, alles total nett gestaltet und im Sommer jagt hier ein Happening das nächste. Nur ganz eingeweihte Eingeweihte können noch einen Bezug zu seinem Namen Bootshafen herstellen, denn von Boot natürlich keine Spur und als Hafen auch nicht zu gebrauchen. Der müsste ja an einer Seite offen sein, damit die Schiffchen rein und raus können. Ist aber alles schon in Planung. Der Bootshafen soll zuerst einmal durch einen Kanal mit den beiden kleinen Seelein verbunden werden. Dann sieht man weiter. Man pirscht sich also langsam wieder an den Urzustand ran. Rückbau nennt man so was, glaub ich.

 

Nun, warum erzähle ich dir das?

 

Stell dir vor, du sitzt mit deinem Coffey to go auf den Stufen des Bootshafens und schaust ins Wasser. Das kannst du unbesorgt machen, denn Coffey to go heißt, dass du damit von Starbucks über die Straße zum Wasser gehen darfst. Ich sage das nur, weil das vielleicht nicht jeder weiß. Deshalb gibt es in Kiel manchen Kiosk mit großem Schild: Kaffee to go – jetzt auch zum Mitnehmen. Ja, wir Kieler haben ein Herz für unsere nicht ausländisch sprechenden Mitbürger.

 

Du sitzt da also mit deinem Pappbecher und schaust aufs Wasser. Das ist schnell überschaut, für die paar Quadratmeter braucht man nicht lange. Du schaust und schaust und denkst plötzlich: Was erschaue ich denn da? Die Sonne steht vielleicht etwas ungünstig, richtig erkennen kannst du es nicht und als du es endlich erkennst, da wird dir schlagartig klar: das willst du gar nicht so genau erkennen.

 

Es gibt natürlich immer genügend andere, die das doch ganz genau erkennen wollen. Gibt’s reichlich. Das sind die, die auf der Autobahn immer tierisch langsam an der Unfallstelle vorbeifahren, damit sie das auch alles ganz genau erkennen können. Ich selber fahre dann zwar auch immer besonders langsam, aber nur, um die Rettungskräfte nicht zu gefährden. Und wenn ich dann schon mal so langsam bin, dann kann ich natürlich auch mal schau’n, was passiert ist.

 

Na, was soll ich lange drum herum reden. Da schwimmt eine flache, kleine Insel, die selbst du, der du von der Sonne ein wenig geblendet wirst, als menschlichen Rücken erkennen kannst. Da braucht es nicht viel Fantasie, um sich den Rest vorzustellen, der unter Wasser an dem Rücken dranhängt. Wer mal einen Rumtopf angesetzt hat, weiß wovon ich rede. Aber weil im Bootshafen kein Rum ist, wird das, was die Polizei dann aus dem Wasser fischt, nicht besonders gut riechen.

 

Deshalb kann ich dir nur raten, mit deinem Coffey to go wieder über die Straße zu gehen und das weitere Geschehen aus geruchsneutraler Entfernung zu beobachten. Jetzt siehst du natürlich nicht mehr so sehr viel, weißt nicht einmal, ob die Leiche männlich oder weiblich ist. Und ob sie komplett ist oder ihr vielleicht irgendein unwichtiges Detail fehlt – ein Finger beispielsweise -, das siehst du natürlich überhaupt nicht.